Der Vorweiner

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Vorweiner' von Bov Bjerg
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Vorweiner"

Resteuropa, Ende des Jahrhunderts. Bürgerkriege und Naturkatastrophen haben die Welt verwüstet. Eine dicke Schicht Beton hebt den Rumpfkontinent über den steigenden Meeresspiegel. In den Auffanglagern Neuschwanstein und Neulübeck versammeln sich dänische, ghanaische oder niederländische Geflüchtete. Einer von ihnen ist Jan. Mit nichts am Leib tritt er in die Dienste von A. wie Anna. Für sie war es höchste Zeit, sich einen Trauergastarbeiter zuzulegen. Tränen bringen Prestige, und nur wer über einen fähigen Vorweiner verfügt, um den wird am Ende überzeugend geweint. Zu echter Trauer ist ohnehin niemand mehr in der Lage. Auch nicht B. wie Berta, Annas Tochter. Berta ist die Erzählerin und das lidlose Auge unserer Geschichte. Und wie sie erzählt: furios, komisch und ohne Mitleid. Bov Bjergs neuer Roman ist ein kühner Wurf: barock wie ein Menuett, gegenwärtig wie ein Liveticker, fernsichtig wie eine Vorhersage. Und mit absolutem Gehör für Sprache und ihre Möglichkeiten komponiert. Der Vorweiner ist ein preiswürdiges Erzählkunstwerk über eine Welt, die in Staunen versetzt.

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Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
Verlag: Claassen
EAN:9783546100380

Rezensionen zu "Der Vorweiner"

  1. 3
    08. Dez 2023 

    durchgeknallte Dystopie

    Am Ende des 21. Jahrhunderts gibt es in Europa keine Nord- und Ostsee mehr. Infolge des Klimawandels sind Schleswig-Holstein und Dänemark vom Meer überflutet. England ist von Malaria heimgesucht. In Österreich hat eine rechtsgerichtete Partei das Land mit Korruption und Vetternwirtschaft zugrunde gerichtet. Die Schweiz ist wirtschaftlich von der sogenannten Goldfäule schwer getroffen. Die Privilegierten Bewohner Resteuropas halten sich einen Vorweiner. Einen Vorweiner kann man erwerben, sofern man nicht der Niederschicht angehört, sondern dem vermögenden, gebildeten Bürgertum.

    Dieses Bürgertum, der Geldadel, legt, gewissermaßen als Abgrenzungskriterium zur ungebildeten, in prekären Verhältnissen lebenden Niederschicht, äußersten Wert auf die Wahrung der Contenance, undzwar über den Tod hinaus. Denn die aus Osteuropa, Afrika, Amerika, Asien und aus den Staaten Westeuropas wie Dänemark, der Schweiz oder den vom Meer überfluteten Niederlanden Geflüchteten verdingen sich bei der Oberschicht Resteuropas als Vorweiner.

    Die vermögende 70jährige Anna hält sich einen solchen niederländischen Vorweiner, dessen Hauptaufgabe das Beweinen und Betrauern nach ihrem Tod sein soll.

    Man kann diesen Roman als Satire auf die deutsche Gesellschaft sehen oder als Ausblick auf eine zukünftige Gesellschaft, Ansätze einer solchen Gesellschaft mag es bereits heute geben. Die gezähmte Niederschicht steht einer in ihrer Achtsamkeit und Wokeness durchgeknallten Elite gegenüber, der das Zeigen von Emotionen abhandengekommen ist. Hauptsache Contenance, always stiff upper lip, dann ist man was Besonderes.

    Die Tochter Annas, Berta, ist Klickbeuterin, also einer heutigen Influencerin vergleichbar. Sie erstellt online Schlagzeilen, in denen Menschen Schreckliches widerfährt und die stes mit der Einspielung der Schreie der Unglücklichen enden, die Berta ihren Usern "nicht vorenthalten möchte" und die konsumiert werden können, ohne selbst schreien zu müssen. Gefühle werden nicht geäußert. So käme es Berta auch niemals in den Sinn, das Ableben ihrer Mutter Anna durch Weinen zu betrauern. Das soll der Vorweiner machen.

    Der niederländiche Vorweiner Jan nun begleitet Anna durch ihr durchgeknalltes Leben. Anna ist 70, hat aber aufgrund vieler Schönheitsoperationen den Körper einer Zwanzigjährigen. Ihr größter Traum ist das Schlachten eines Schweins, den verwirklicht sie auch. Und hier wird es m. E. total abgefahren, denn sie steigt nackt in den Körper der Riesensau, womöglich um eine Art von nicht nur körperlicher sondern auch seelischer Erneuerung zu erleben.

    Der Roman hat viele komische Elemente. Etwa ein neuer Bundeskanzler mit Namen Zorro Zauderzwerg oder die Idee, dass das in der Schweiz gebunkerte Gold der ehemaligen Eliten von einem Fäulnisvirus infiziert und zerstört ist. Das fand ich witzig. Interessant auch die Idee, dass ehemalige Westeuropäer das Schicksal eines Flüchtlings ereilt und sie quasi von den privilegierten Resteuropäern als Trauersklaven gehalten werden.

    Dennoch hat mir diese als Gesellschaftssatire daherkommende Dystopie nicht gefallen. Der niederländische Vorweiner ist sehr groß, Österreich von korrupter Vetternwirtschaftspartei ruiniert, einerseits die gezähmte Niederschicht, andererseits die reiche, gebildete Elite, die Wert darauf legt Contenance zu wahren, a la englisches Königshaus. Wer Geld hat und vom Klimawandel verschont blieb, kann sich einen Vorweiner leisten, sogar einen niederländischen. Nun ja, fand ich dann doch zu plump, zu derb, zu überspitzt, einfach zu durchgeknallt.

    Ich vergebe 3 Sterne.

  1. Das Buch entdeckt man erst beim Lesen

    Der erste Eindruck durch Cover und Kurztext Information war derart skurril, dass ich mir die Leseprobe antat. Antat ist hier das richtige Wort. Ich fand überhaupt keinen Zugang zu dem Buch.
    Da ich es nun aber vorablesen durfte oder eher musste, habe ich mich an das Buch gemacht. Und oh Wunder, ich entdeckte das Buch auf eine ganz neue Art.
    Die Kapitelvorstellung fand ich erst einmal nur schräg. Wie das Cover. 2 - 3 - 1. Und wie auf dem Cover spielen Farben einer Rolle. Der rosraote Pizzabote.
    Gerade als ich dachte, kann ich das wirklich lesen, kam eine Stelle, in der die sogenannte Niederschicht mit Müll ein Feuer schürt. Das traf mich direkt, hatte ich doch gerade eine Doku über Altkleiderverwertung gesehen. In Bulgarien werden sie illegal und inoffiziell säckeweise als Brennstoff gehandelt. Trotz der schädlichen Gase können sich die ärmsten kein anderes Brennmaterial leisten. Eine erstaunliche Parallele, da denkt man hier wird grotesker Unsinn verzapft, aber es ist so gerade heute in unserem Leben. Nur bischen überspitzt und anders präsentiert. Es gibt da auch eine groteske Szene, in der ein Schwein geschlachtet wird. Nicht für Wurst, Achtung Spoiler, es wird sich in das ausgeweidete Schwein reingelegt. Überspitzte Darstellung der Frischzellenkur als Jungbrunnen?
    Immer wieder stosse ich im Buch auf Paralleln zu unserem Leben oder eher Situation, die man so interpretieren kann.
    Zwischendurch liest sich das Buch stellenweise wie ein Regieanweisung.
    Mein Fazit: für mich hat es sich gelohnt am Buch dran zu bleiben, auch wenn es anstrengend war.